Port Gentil Teil 10
Anfang September lagen wir erneut in Port Gentil. Am Wochenende gab es keine Charter. Ich wanderte nach Dajü, um auf der Golden Harvest die Bilgen zu lenzen und die Katzen zu füttern. Der Himmel zeigte sich bedeckt. Das Wetter schwankte. Kleine Windhosen fegten über den Ogowe. Das Dingi lag bis zum Rand voll Regenwasser am Strand hinter einer Palme. Hans musste seit Tagen unterwegs sein. Ich machte mir Sorgen, lenzte hastig das Boot. Der Schoner am Horizont wirkte düster und abweisend

Nachdem die Untiefen hinter mir lagen, erfasste der Ebbstrom das Dingi und zog es zur Golden Harvest. Je näher ich kam, desto stärker wurde das Gefühl, immer tiefer in das in das Zentrum eines unsichtbaren Strudels zu geraten. Ich hatte beim Pullen das Schiff im Rücken und fühlte mich von Bord aus beobachtet. An Deck war niemand zu sehen. Ich rief »Hello«, um mir Mut zu machen, schaute vorsichtig durch die Speigatten, stieg an Deck und lauschte den Geräuschen. Die Stagsegel flatterten lose im Wind. Das Großsegel hatte die Farbenbox unter sich begraben. Neben dem shit bucket lag Roots. Grey One saß mit angelegten Ohren im Schatten des Ruderhauses, leckte sich die Pfoten und maunzte. Die Planken vorm Niedergang waren blutverschmiert. Aus den Windhutzen drangen Klagelaute. Ich meinte, die Stimme von Elise zu hören, und rief in Panik:
»Momo? Elise?«
»Anybody home?«

Keine Antwort. Über dem Regenwald im Südosten türmten sich schwarze Wolken auf. Ich laschte eilig die Segel fest. Hinter dem Fockmast lag der Flügel einer Möwe. Weiter achtern der blutige Kopf. Die Bilder weckten verdrängte Gefühle, ein unbeschreibliches Grauen. Mein Herz raste, seit ich den Schoner betreten hatte. Es kostete Kraft, die Luken zu öffnen.

Unter Deck lagen Bücher und Zeitschriften am Boden verstreut. Kaputte Kisten. Die Kakerlaken beherrschten das Feld. Alles wirkte filzig und schmierig. Auf dem Tisch klebte ein neues Rundschreiben der PNAG. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein. Der Topf mit den Bohnen war noch heiß. Ich durchstreifte das Schiff, verschaffte mir einen Überblick. Bis auf zwei Dosen Tunfisch und einen Eimer voll Hülsenfrüchte gab es nichts mehr zu essen, nichts zu trinken. Der Proviant war verbraucht, die Batterien restlos erschöpft. Das Voltmeter stand unter Null. Der Dieseltank leer. Es gab weder Kerosin noch Petroleum für die Lampen, kein Licht, nicht einmal Kerzen.

In der Kombüse wurde es dunkel. Draußen ging das Gewitter los. Ich stand da, umzingelt von sieben jaulenden Katzen. Die grellen Blitze erinnerten mich an die schwimmenden Leichen, den Horror von Principe. Die erlebte Gewalt war gegenwärtig, jeder Flecken des Schiffes entweiht. Aus den Bilgen stieg penetranter Verwesungsgeruch.

Ich servierte den Katzen die letzten zwei Dosen Tunfisch und blieb unter dem skylight stehen, um im Lichtschein der Blitze den PNAG Bericht zu lesen. Am 15. August (1979) hatte es in London ein Meeting gegeben. Die Nachricht umfasste zwei Listen. Eine mit Punkten, die gut gegangen waren und eine mit Dingen, die besser hätten laufen können. Auf der Positivliste stand 20-mal PNAG, 2-mal GH und einmal die Fri. Die Crew habe in Mozambique interessante Kontakte geknüpft.

PNAG stand blendend da. Sie seien die einzige Gruppe in den USA, die an Namibia arbeite. Dass Ken durch die Aktion in Gabun seine Sprachkenntnisse erweitern konnte, war ein weiterer Pluspunkt, ebenso die Liebe zwischen Roy und Maggie, sowie die Geburt von Anna. Den letzten und wichtigsten Punkt für die PNAG musste ich dreimal lesen, um ihn glauben zu können. Da stand: »Lots of good stuff to eat – ice cream!« Es habe viele gute Sachen zu essen gegeben, zum Beispiel Eiscreme. Eigentlich war Operation Namibia ein Erfolg. Sie hatten alles richtig gemacht. Wir hätten mehr auf sie hören sollen.

In der Negativliste wurde uns noch mal unbewusster Elitismus, Rassismus und Sexismus vorgeworfen, zudem politische Naivität. Jedes Crewmitglied hätte zwei Sprachen beherrschen müssen. Es wäre hilfreich gewesen, wenn wir mit einer realistischeren Einschätzung der politischen Situation in Afrika an die Sache herangegangen wären. Roy und Maggie hätten Baby Anna erst nach dem Tag der Entscheidung in Walvis Bay empfangen dürfen.

Zu jedem der Punkte blitzte es heftig, gefolgt von röhrendem Donnergrollen. Dicke Regentropfen knallten an Deck. Sturmböen jagten das Schiff um den Anker. Die Katzen jaulten. Im Kabelgatt schlug die Kette gegen den Stutzen. Jemand rumorte in der master’s cabin. Die Tür sprang auf. Ich hörte Schritte, stürzte an Deck und verließ fluchtartig das Schiff, ignorierte die Gesichte. Rund um den Schoner lagen silbrig schimmernde Karavellen mit Kreuzen auf den Segeln. Im nächsten Moment verschwanden sie.

Die Rückfahrt dauerte fast eine Stunde, gegen den Wind, gegen den Ebbstrom und gegen jegliche Vernunft, bei einem so starken Gewitter im Dingi zu sitzen. Die Golden Harvest ließ mich nicht los, sie wurde nur langsam kleiner, ergraute im Regen. Sie war zu einem Totenschiff verkommen, beladen mit unerlösten Erinnerungen. Wie konnte Hans das aushalten, falls er überhaupt noch lebte? Der verdammte Verwesungsgeruch und die Geräusche. Ich hatte Elise an Bord gesehen, im Lichtschein der Blitze, für den Bruchteil einer Sekunde. Sie stand an der Spüle, bekleidet mit einem Leichenhemd.