Libreville
Am Abend des dritten Tages lagen wir schon ganz in der Nähe von Libreville. Roy machte sich Sorgen wegen möglicher Untiefen. Bereits 15 Seemeilen vor der Küste konnten wir den Loom der Stadt erkennen und ein grelles Blinklicht. Aus dem UKW-Funkgerät kamen französische Stimmen, der Name »Ocean King«. Ein Ölbohrschiff, oder eine Plattform.

Wir umfuhren das blinkende Gebilde weiträumig und sahen bald darauf ein Leuchtfeuer, ein Strich Steuerbord voraus. Im Almanach wurden mehrere Signale angegeben, doch nur eins davon funktionierte. Die Frequenz von Kap Esterias, am Ufer der Flussmündung. Durch Peilungen stellten wir unsere genaue Position fest. Die Golden Harvest befand sich nördlich des Estuars, etwa 10 Seemeilen von der Fahrrinne entfernt.

Wegen der Revierfahrt blieben alle an Deck. Es gab eine kurze Diskussion, ob wir Libreville bei Nacht anlaufen, oder bis Sonnenaufgang vor der Küste kreuzen sollten. Roy war dagegen, ohne Revierkarte so dicht unter Land vor dieser riesigen Flussmündung herum zu lavieren. Dann könnte er den Schoner gleich versenken. Er luvte an und segelte etwa zehn Meilen nach Süden. Es kam zu erstem Wetterleuchten, sodass für Bruchteile von Sekunden die Küstenlinie als flache schwarze Borte am Horizont sichtbar wurde.

Der Wind nahm weiter zu. Schließlich waren auch Momo und Elise einverstanden, sofort den Hafen anzusteuern: »No chart, but no choice!« Wir hatten keine Wahl, fierten die Schoten auf, und drehten nach Osten ab, um in die unsichtbare Mündung einzulaufen. Viel zu weit südlich. Wir hörten Brandungsgeräusche an Steuerbord, hatten die Kraft der Strömung unterschätzt, und die Dunkelheit. Das Wasser gurgelte. Es roch nach Humus. Die Segel zerrten an den Stagen. Donner grollte. Dann gab es plötzlich einen heftigen Ruck. Das untere Stagsegel zwischen den Masten ging mit einem Schlag in Fetzen. Die Golden Harvest lief knirschend auf eine Sandbank, holte kurz über und drehte bei. Wir konnten nichts erkennen. Das Tuch stand verquer und schlug lärmend um sich.

Es gab die üblichen Vorwürfe. Momo schimpfte, Roys Unfug mit dem Sextanten habe zur Havarie geführt. Er hätte besser auf seinen gesunden Menschenverstand vertrauen sollen: »Nonsense navigation« Nun war alles zu spät. Das Gewitter kam näher. Krieg lag in der Luft. Jeder fluchte vor sich hin. Hans versuchte, den Streit zu schlichten. Kris aktivierte Jenny, um notfalls Kati starten zu können. An Deck herrschte Chaos. Die Reste des zerfetzten Stagsegels flogen uns um die Ohren. Keiner wollte die Lumpen bergen. Der Rumpf des Schiffes berührte im Rhythmus der Wellen den Grund, bis sich der Kiel tief genug in den Schlick eingegraben hatte. Eine Folter für unsere Nerven. Die Flüche und Beschimpfungen der Crew wurden von den Geräuschen des Schiffes übertönt.
Libreville Teil 1
Zum Sonnenaufgang herrschte Flaute. Dünner Nebel lag über dem River. Vom südlichen Ufer her hörte man Affengebrüll und das Trompeten der Elefanten. Die Strömung ließ nach. Gegen neun Uhr war Tidengleichstand erreicht, »slack water«. Das Wasser lag ruhig wie ein Bergsee. Wir starteten die Maschine. Kris und Elise lichteten den Anker. Ich stand am Ruder. Roy und Momo versorgten Kati.

Libreville lag auf einer grünen Hügelkette am Nordufer des großen Flusses. Es blieb noch ein weiter Weg bis zum Strand. Wir hielten durch das Fernglas nach Masten Ausschau, auf der Suche nach dem Hafen. Später kamen zwei Speedboote auf uns zu gerast. Zodiaks mit Außenbordmotoren, deren Gedröhne von ungewöhnlich lauter Popmusik übertönt wurde. In den Booten saßen weiße Jungs, die wie Urlauber aussahen und freundlich winkten. Sie umrundeten johlend die Golden Harvest:
»Hey, hey, hey!«

Es schien wie ein Wunder. Wir hatten mit Soldaten gerechnet, Kanonenbooten der Küstenwache, mit allem möglichen, aber nicht mit so was. Momo und Elise fragten sich, wie sie das bewerten sollten. Roy legte die Hände an den Mund und rief:
»Port, port, where is the port?«

Die Jungs blieben auf Distanz. Sie zeigten vage nach Nordosten und verschwanden mit ihren lärmenden Gummigeräten in Richtung Küste.

Vor uns lag grünliches Brackwasser. Wir loteten drei Faden und wurden nervös. Durchs Fernglas war eine Mole zu erkennen, die etliche hundert Meter in den Fluss reichte, mit ein paar flachen Holzhäusern drauf und einem alten Kran. Davor ragten die Masten mehrerer kleiner Fischerboote auf. Eine Fahrrinne gab es nicht. Wellenbrecher aus schweren Felsbrocken schützten einen kleinen Yachthafen und die Kutter vor der Atlantikdünung. Wir bargen die Segel und lenzten die Bilgen. Roy suchte einen sicheren Liegeplatz. Ich sollte bei einem der Trawler längsseits gehen, doch die lagen bereits in Zweierreihe. So durchquerten wir die enge Passage zwischen den Schiffen, tuckerten wieder raus auf den Fluss und warfen fünf Kabellängen südöstlich der Mole den Anker.
Libreville Teil 2
Nach knapp einer Stunde hörte man plötzlich einen seltsamen Brummton in der Luft. Alle rannten an Deck und schauten gebannt nach Westen. Vom Kap Esterias her näherte sich lärmend eine dunkle Wolke. Sie nahm Kurs auf die Golden Harvest, um gleich darauf direkt über dem Schiff ins Wasser zu stürzen, wie ein lebendiger Rauch: (Offb. 9; 3-6) Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken hervor und es wurde ihnen Macht gegeben, wie sie die Skorpione der Erde haben. Es wurde ihnen verboten, dem Gras der Erde Schaden zu tun, keinem Grün und keinem Baum, nur den Menschen, die nicht an Jesus Christus glaubten. Sie empfingen Weisung, sie nicht zu töten, sondern zu quälen fünf Monate lang. Und ihre Qual sollte sein, wie Skorpione peinigen, wenn sie einen Menschen stechen. In jenen Tagen aber werden die Menschen den Tod suchen und ihn nicht finden, sie werden sich sehnen, sterben zu dürfen, doch der Tod wird vor ihnen fliehen!«

Es waren grüne Stabheuschrecken. Das ganze Deck lag voll. Die Körper dick wie Bleistifte, etwa zehn Zentimeter lang, mit großen Flügeln und borstigen Beinen. Kris erzählte freudestrahlend, dass man die essen könne, es sei eine besondere Sorte, eine fliegende Delikatesse. Er probierte gleich ein besonders stattliches Exemplar. Sie lebte noch und zappelte. Kris sprach vom hohen Eiweißgehalt, dass Kochen die Nährstoffe zerstören würde, und biss kräftig zu. Da blieben nur noch die Flügel übrig und die Beine. Die Viecher seien äußerst delikat, sehr schmackhaft. Er konnte uns nicht überzeugen. Elise und Momo verschwanden schnell unter Deck.

Kris blieb der einzige, der diese Heuschrecken verspeiste. Das Essen in England sei tot gewesen: Reine Chemie! Er wollte endlich etwas lebendiges probieren. »Living food!« Wir sollten uns freuen. Die Heuschrecken seien ein Geschenk des Himmels. Vor dem Zubeißen hielt er die sterbenden Körper dieser Vorboten der Apokalypse eine Zeitlang grinsend zwischen den Zähnen, um sich von den Flügeln Luft zufächeln zu lassen. Man konnte es kaum mit ansehen. Für Kris waren das lebende Ventilatoren, fliegende Proteine, heruntergekommene Sündenböcke, die er auf seine Art in die Wüste schickte.
Libreville Teil 3
Die Golden Harvest lag inzwischen wegen Ebbe auf Grund. Es blieb Zeit, den Strand zu erkunden und diese tolle Promenade, deren Lichter wir bei unserer Ankunft gesehen hatten. Das war der Unabhängigkeitsboulevard, der »Boulevard de la Indépendence«. Eine Prachtstraße aus Beton, mit vereinzelten Hotelhochhäusern zum Wasser hin und den Hügeln der Stadt landeinwärts. Es gab ein Rathaus auf Betonstelzen, doch über allem thronte dieser ockerfarbene Klotz, der Märchenpalast von Omar Bongo. Vor den Toren standen wild kostümierte Wachen, die aussahen, als kämen sie aus einer Revue. Sie waren mit roten Federbüschen geschmückt, die die Köpfe um einen Meter und mehr überragten.

Kris wusste aus seinen Unterlagen, dass Libreville de facto von den Franzosen regiert wurde und Omar Bongo in einer Traumwelt lebte, mit einer Leibgarde in Phantasieuniformen. Das letzte Wort hätten nach wie vor die Franzosen. Er erzählte mir unter Hinweis auf seine Körpergröße von den Pygmäen, den Zwergmenschen aus dem Regenwald. Gabun sei das Heimatland der Pygmäen. Früher hätten die hier überall gelebt. Heute würde es kaum noch Zwergmenschen geben. Das Wort Pygmäe kam aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie »Däumling«.

Die Frauen, die uns begegneten, waren alle groß gewachsen, mit schönen Augen, langen Hälsen und beweglichen Hinterteilen. Sie trugen high heels und schicke, farbenfrohe Fetzen. Richtig heiße Weiber, wunderschön. Die meisten hatten T-Shirts an, mit dem Brustbild von Omar Bongo. Kris vermutete, dass es etwas mit dem Geburtstag des Präsidenten zu tun haben könnte, oder mit Politik. In Libreville benahmen sich die Leute auf jeden Fall freundlich. Sie lachten und tanzten auf der Straße, anstatt rumzubrüllen und zu trampeln. Hier herrschte Ruhe. Kein Mensch bewegte sich schneller als notwendig. Am Strand lagen angeschwemmte Baumstämme, kostbare tropische Edelhölzer, die dort vergammelten und teilweise mit farbenprächtigen Schimmelpilzen überwuchert waren. Niemand kümmerte sich darum.

In Gabun gab es viele Bodenschätze, Erdöl, Eisen, Mangan und Uran. Gabun lieferte Frankreich Uran, um der großen Nation die Möglichkeit zu geben, das Mururoa Atoll zu zerstören. Wenn er gewusst hätte, dass Roy mit der Fri nach Mururoa segelte, um diese Atomtests zu verhindern, hätte Papá uns wahrscheinlich weniger gemocht. Frankreich war stolz auf seine Atombomben und Omar Bongo machte mit. Dafür durfte er den Frauen sein Konterfei über die Brüste stülpen. Es spielte keine Rolle, dass Gabun mit seiner mehrheitlich christlichen Bevölkerung von einem überzeugten Anhänger des Islam regiert wurde. Den Franzosen hatte der Showpräsident nichts zu sagen. Nur seinem Volk. El Hadji Omar Bongo wurde geliebt und gefürchtet.

Nach einer kurzen Rast vor dem Rathaus auf Stelzen schlenderten wir weiter. Eine der Straßen, die zu den Hügeln hinauf führte, hatte es mir angetan. Der Geruch von frisch gebackenen Blätterteighörnchen lag in der Luft. Da gab es eine Bäckerei, wo man Milchkaffee trinken konnte. Schräg gegenüber stand ein altes zweistöckiges Hotel mit verwitterter Holzfassade. Auf dem Schild über dem Eingang stand »Hotel Central Paris - Gabon«. Von dort aus hatte man einen freien Blick über den River.
Libreville Teil 4
Eines Abends kamen die französischen Jungs mit einer Kiste voll Obst an Bord: Bananen, Pampelmusen, Honigmelonen und Gras. Sie erzählten von ihrem Freund Claude. Der würde eine heilige Droge nehmen: »Iboga!« Marceau kannte einen Medizinmann im Regenwald, der bereit war, Europäer in das Geheimnis einzuweihen. Dieser Claude, der auch die Kiste voll Obst gespendet hatte, würde regelmäßig in den Urwald fahren. Da könnten wir uns etwas Geld verdienen. Sie wollten es arrangieren. Das sei eine magische Sache, der Regenwald und Iboga.

Eine neue Welt tat sich auf. In der Phantasie fuhr ich durch dichte Bananenhaine und über grobe Urwaldpisten, so wie es dann auch geschah. Ich war sofort einverstanden und wurde ein paar Tage später von den Jungs im Auto abgeholt, um Claude kennenzulernen. Operation Namibia steckte fest. Die Crew brauchte Vitamine. Ich fühlte Abenteuerlust, wie früher, wenn es ins Ferienlager ging.

Hans brachte mich zur Mole. Wenig später kam donnernd ein Wellblechgefährt in den Hafen. Es gehörte einem französischen Pärchen, das oben auf den Hügeln wohnte. Der Kleinbus hatte den Auspuff verloren. Ein Höllenlärm. Die Schiebetüren standen offen. Als Gaspedal führte ein Strick über Rollen zum Motor. Der Fahrer musste die ganze Zeit daran ziehen. Nur die Handbremse funktionierte. Wir gerieten in eine Kontrolle. Die Soldaten wollten Geld. Die Franzosen kannten das schon. Das Schwierigste war letztlich, den Wagen am Hang wieder flott zu kriegen, mit dem Seilzug. Es funktionierte nicht richtig.

Das Pärchen wohnte in einem Haus aus der Kolonialzeit, mit schmiedeeisernen Gittern anstelle von Glasscheiben vor den Fenstern. Die beiden schenkten uns gebrauchte Klamotten. Der Mann lief nervös im Wohnzimmer umher. Die Frau war eine Müslibraut, gut gebaut und sinnlich. Sie zeigte mir den Garten hinter dem Haus. Dort wuchsen Papajabäume. Ich sollte eine der Früchte probieren. Das sei ein Aphrodisiakum.

Claude sprang gerade aus dem Führerhaus des Opel Blitz, als wir auf die Straße kamen. Ein schlaksiger Typ, etwa einsneunzig, braungebrannt, mit schwarzen Wuschelhaaren, großen, dunklen Augen und einem langen, freundlichen Gesicht. Beim Lachen sah man seine Zahnlücken. Er trug helle, lange Stoffhosen und ein kurzärmeliges Hemd. Sein Transporter war rundum mit weisen Sprüchen beschriftet. Ein Buch auf Rädern. Oberhalb der Windschutzscheibe stand in großen Lettern: »S’ent faut la morte« Der Tod ist ein Scherz.
Libreville Teil 5
Claude war gläubiger Kapitalist. Er bekniete die Waldmenschen, beschwor sie mit Händen und Füßen, mit Tränen in den Augen: Sie könnten so reich werden wie Omar Bongo, wenn sie nur endlich begreifen würden, dass Zeit Geld ist! Wenn es schlimm kam, führte er einen Tanz auf, schmiss alles hin, ballte die Fäuste und brüllte so lange »Merde«, bis die Gesprächspartner weich wurden. Beim Verhandeln jammerte er, als hätte man ihn soeben übers Ohr gehauen. Man musste es ihm glauben. Er feilschte um jeden »Zeffa« und machte ein Riesengeschäft. Am Glücklichsten schien er mir, wenn er am Abend das Geld zählte. Es gab seinem Leben Sinn.

Das Autofahren im Dauerregen forderte höchsten Einsatz. Auf dem Weg nach Lambarene spülte ein Erdrutsch die Piste weg. Der ganze Hang sank direkt vor unseren Augen ins Tal. Claude kehrte fluchend um. Der Ogowe trat über die Ufer. Die wenigen Brücken standen unter Wasser. Die wichtigsten Straßen wurden von den Militärs gesperrt, durch Ketten, die sie zwischen Betonblöcken befestigten, knapp einen Meter über der Fahrbahn. Claude versuchte, die Ketten zu sprengen, er fuhr um sie herum und setzte immer wieder seinen Willen durch. Wenn er sich von einer Kette aufhalten ließe, könnte er sich gleich eine Kugel in den Kopf schießen. Einmal raste er bei schlechter Sicht mit Vollgas in so eine Absperrung. Das Dach des Fahrzeugs wurde abgesäbelt. Als er wieder zu sich kam, lag die Kette hinter seinem Hals. Claude hatte nicht einen Kratzer. Er beteuerte, Iboga habe ihn unsterblich gemacht.

Ende März besuchte Claude kurz die Golden Harvest, zusammen mit dem französischen Paar. Sie brachten eine Kiste voll Obst und gut erhaltene warme Pullover. Die Dünung war widerlich an dem Tag. Der Schoner rollte wie ein Log. Wir legten uns quer auf die Kojen im Vorschiff, um nicht von den Füßen geschleudert zu werden. Die drei fühlten sich schon seekrank, als sie ins Dingi stiegen. Sie stöhnten bei jeder Welle. Beim Entern des Schiffes brauchten sie beide Hände. Die Franzosen waren so schockiert, dass sie vergaßen zu kotzen. Alles sei okay. Sie wollten sich nicht unterhalten, nur etwas Kraft schöpfen im Liegen, um dann so bald wie möglich zurück zu fahren.

Auf der nächsten Tour sprach Claude mehrfach von diesen Besuch bei uns: Wie wir das aushalten würden? Es sei nicht human, kein Mensch könne das ertragen, dieses Schaukeln: »Impossibel!« Er bewunderte uns, und stellte immer wieder gestenreich dar, wie er an Bord der Golden Harvest hin und her geschleudert wurde. »Katastrophal« und »fatal« hießen die Worte, die ihm dazu einfielen. Er hielt sich resolut den Zeigefinger an die Schläfe, um zu verdeutlichen, dass er sich erschießen würde, wenn er gezwungen wäre, länger als eine halbe Stunde auf der Golden Harvest zu bleiben. Wir seien richtige Helden, Piraten. Total verrückt.

Claude hatte in den letzten Tagen einen Austernfischer kennen gelernt, der in einer engen Schlucht wohnte, über die, als Brücke für die Waldbewohner, ein riesiger vermoster Baumstamm führte. Er kam fluchend die Böschung hoch, mit einer Holzkiste voll Muscheln im Arm, die mörderisch stanken. Er wollte schnell nach Libreville, um die Biester lebend zu verkaufen. Der kürzeste Weg führte über die Schlucht, über den vier Meter breiten Stamm. Der war nicht für Automobile gedacht. Claude bretterte trotzdem drüber, trotz des Regens und der Nebelschwaden, die aus dem Tal aufstiegen: »S’ent faut la morte!« Mein Herz blieb kurzfristig stehen.
Libreville Teil 6
Nach stundenlanger Fahrt durch den bergigen Regenwald erreichten wir unser Ziel. Claude ließ den Wagen am Rand der Piste stehen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein großes hölzernes Schild zwischen den Bäumen. Der Hinweis auf eine Siedlung. Die Dörfer selbst konnte man von der Straße aus nicht erkennen, nur diese Schilder, und aus rohen Stämmen gezimmerte Tische, auf denen Handelsgüter lagen, zum Verkauf an die Buschfahrer: Ananas, Bananenstauden und Orangen. Auf der Tafel stand in handgemalten Buchstaben, dass dieses ehrenwerte Dorf vom »Heiligen Laurentius« regiert wurde.

Die Hütten lagen etwa hundert Meter abseits der Piste und waren durch einen geschwungenen, mit Büschen gesäumten Trampelpfad zugänglich. Claude’s Augen leuchteten beim Anblick der hüfthohen Sträucher rechts und links des Weges. Er zupfte ein paar der weißlichen Blüten ab und steckte sie sich in den Mund. Das sei Iboga. Der Legende nach ließ »Zame ye Mebege«, der letzte der erschaffenen Götter, eines Tages den Pygmäen Bitamu beim Früchtepflücken vom Baum stürzen und schnitt dem Leichnam sowohl die kleinen Finger, als auch die kleinen Zehen ab, um sie in den Regenwald zu pflanzen. Daraus entstand der Iboga-Strauch. Die ersten Dächer wurden sichtbar. Freundliche Frauen kamen näher. Sie begrüßten uns lächelnd, mit dicken Küssen mitten auf den Mund.

Der »Heilige Laurentius« war alles in einem: Dorfältester, Häuptling und Medizinmann. Ein Illuminat, ein Erleuchteter, ein heiliger Priester des Bwiti-Kultes. Ein Brückenbauer. Einer, der mit den Ahnen verkehrte. Seine Hütte stand im Zentrum des Dorfes, direkt neben dem Langhaus, wo die Zeremonien und Besprechungen stattfanden. Er wusste, dass ich initiiert werden wollte und musterte mich wohlwollend.

Wir kamen gerade richtig zum Essen. Es gab Schlangenfleisch mit Maniok in Piri-Piri Soße. Der Heilige Laurentius segnete die Speisen. Er war rotviolett gekleidet. Wie ein Märchenkönig. Das ganze Dorf wirkte verzaubert. Über uns wurden die Baumwipfel von einem sanften Wind in Bewegung gehalten. Im Lichterspiel der Blätter lösten sich die Gedanken auf. Zikaden lärmten. Es roch nach Rauch und rotem Pfeffer. Unter den Sträuchern saßen bunte Hühner in schattigen Erdmulden und schauten den Eidechsen beim Fliegenfangen zu.

Nach dem Mahl rauchten wir und schlenderten dann rüber zum Langhaus. Weil ich die Sprache des Medizinmannes nicht verstand, erklärte mir Claude, was mich im Bezug auf Iboga erwartete. Das Zeug würde entsetzlich schmecken. Ich sollte auf keinen Fall kotzen. Das würde die Götter beleidigen.
Libreville Teil 7
Die Strömung war auch in der Schutzzone deutlich spürbar. Sie nahm weiter zu. Beim Schwoien um den Anker kamen wir bedenklich nahe ans Ufer. Das Schiff setzte mehrmals hart auf, sodass wir uns über die Winde aus dem Gefahrenbereich ziehen mussten. Um den Schoner im Strom zu stabilisieren, wollte Roy einen Heckanker ausbringen. Die Vorarbeiten zogen sich bis zum Abend hin. Als er ins Dingi verladen wurde, sank die Sonne. Das Boot lag tief in dem dunklen Wasser.

Der Anker wog schwer. Noch schwerer war es, das Teil zwanzig Meter achteraus wieder über Bord zu werfen, ohne das Dingi zu versenken. Wir hatten nur Maniok im Magen, aber übermenschliche Kräfte, wenn es darum ging, unser Zuhause vor dem Untergang zu bewahren. Vergeblich! Selbst am tiefsten Punkt der Schutzzone kam die Golden Harvest auf Grund. Eine Stunde lang knirschte und krachte es, bis das Schiff endlich ruhig lag und sich mit dem absinkenden Wasser auf die Seite legte. So konnte kein Mensch an der Maschine arbeiten. Elise standen Tränen in den Augen. Kris kratzte sich ratlos am Kopf. Für Momo war Roy an allem Schuld. Seine »nonsense navigation« würde nichts als Desaster bringen.

Mit zunehmender Flut mussten wir erneut den Schlepper bitten, uns in tieferes Wasser zu ziehen. Der kehrte gerade von einem Einsatz zurück und war so freundlich, auf Roys verzweifeltes Winken in der Dunkelheit zu reagieren. Das Boot kam längsseits. Wir legten die Leinen und machten fest. Der Kapitän wollte nach Hause. Er hatte es eilig. Der Heckanker musste geopfert werden. Wir zersägten die Trosse und gaben dem Skipper ein Zeichen. Er sollte uns gleich achteraus trecken:
»Full astern!«

Der Kapitän machte Dampf. Im nächsten Moment kam direkt vor dem Bug etwas aus dem Wasser geschnellt. Es gab einen heftigen Ruck. Die Golden Harvest stöhnte auf. Eisenteile schlugen gegeneinander. Alle starrten fluchend nach vorn. Der Skipper wurde über den Lärm der Maschine angebrüllt, das Gas wegzunehmen. Momo und Elise wollten die Schuldfrage klären, obwohl es im Grunde genommen keine Frage von Schuld war, sondern reine Dussligkeit wegen Stress. Wir hatten in der Eile vergessen, den Hauptanker zu lichten. Roy stand da, mit langem Gesicht und über dem Kopf zusammengelegten Händen:
»Oh, shit!«

Der Schlepperkapitän blickte nachdenklich von der Brückennock herab, ohne die Vorgänge zu bewerten. Er wollte wissen, ob es ginge:
»Ca va?«

Kris sagte Scheiße auf französisch:
»Merde!«
Libreville Teil 8
Der Tiefpunkt der Ebbe war erreicht. Wir gönnten uns eine kurze Pause. Morishda stellte den Herd ab und füllte neue Teerbrocken in den Topf, für die zweite Schicht.

Als nächstes wurde von oben nach unten die teure Antifouling Farbe als Grundierung aufgetragen. Eine Stunde später die Endlackierung in Schwarz. Diesmal von unten nach oben. Immer zwanzig Zentimeter über der ansteigenden Wasserlinie. Zwischendurch schaute ich regelmäßig zum Strand. Kris fotografierte. Hans und Roy standen bewegungslos im Schatten unter den Palmen.

Nach Sonnenuntergang blieb ich eine Weile am Ufer, um Momo und Elise aus dem Weg zu gehen. Die Golden Harvest sah gespenstisch aus. Wie ein gestrandeter Wal. Von Hans, Roy und Kris waren nur noch die Spuren im Sand zu sehen. Sie hatten das Schiff einfach liegen lassen, Wie sollte ich das verstehen? Der Schoner war trotz allem mein geliebtes Zuhause. Langsam wurde mir klar, was Kris damit sagen wollte, als er am Nachmittag von »unfriendly take-over« sprach. Er meinte eine Meuterei, eine feindliche Übernahme. Die Zwei hatten das Schiff in Besitz genommen. Ein viel zitierter Satz an Bord der Golden Harvest hieß: Das Schiff gehört denen, die es pflegen! Das Land sollte denen gehören, die es bearbeiten. Den Fleißigen!

Fleiß schien Momos soziale Taktik zu sein. Dadurch, dass er Fleiß an den Tag legte, wenn andere nicht mehr konnten, erwarb er moralische Pluspunkte, die er später bei einer günstigen Gelegenheit rücksichtslos ausspielte. Dann kamen diese unangenehmen Fragen:
»Wer hat dich gepflegt, als du krank warst?«
»Wer hat für dich gekocht?«
»Wer hat dich wieder aufgebaut?«

Am liebsten war Momo auf Hans losgegangen. Da konnte er sich eskalationsfrei abreagieren. Die Ruhe von Hans fehlte nun an Bord. Die Stimmung war schlecht. Der Schoner lag in einem Winkel von 45 Grad auf Backbordseite in der Dunkelheit. Unter Deck roch es nach Teer. Nur nach Teer. Da fehlte das übliche Kaffee- und Kakaoaroma, der versöhnliche Grasgeruch. Es war alles zu viel. Der Hunger, die verdammten Muscheln, die Krebse und der Stress. Die Zwei unterhielten sich leise. Mori hatte sich hingelegt. Ich konnte das alles nicht glauben und schaute rüber zum Strand, aber da standen nur noch die dunklen Schattenrisse der Palmen vor dem violettschwarzen Nachthimmel.
Libreville Teil 9
Momo und Elise hatten vierzig Liter Wasser mitgebracht, sodass wir Kakao trinken konnten. Ich versuchte die Gedanken zu ordnen. In meinem Kopf sah es aus wie in der master’s cabin, überall Kisten voller Bücher, ungeordnet, kreuz und quer durcheinander.

Das letzte Nachmittagsgewitter lag hinter uns. An Deck war das Getrampel der Meuterer zu hören. Die Ankerkette bewegte sich. Ich rannte gleich hoch, um nachzuschauen. Die Zwei standen an der Winde. Sie schnauzten mich an, dass ich helfen sollte oder aber unter Deck verschwinden, sonst würde ich bluten.

Das Ankerlichten funktionierte nicht. Zuviel Strömung auf der Kette. Kati musste gestartet werden. Momo und Elise wussten nicht, wie ich reagieren würde. Vor Morishda hatten sie keine Angst. Sie fauchten und drohten mit Gewalt, falls ich sie weiter behinderte. Der Bäcker wurde herum kommandiert. Der blickte nicht mehr durch. Jenny lief knatternd über unseren Köpfen. Kati kartoffelte. Es war auf einmal entsetzlich laut.

Momo drückte Momodu eine Ölkanne in die Hand. Er sollte im Maschinenraum bleiben und die beweglichen Teile abschmieren. Die Zwei verzogen sich an Deck. Es wurde kurz Gas gegeben, um den Druck von der Kette zu nehmen. Elise kurbelte an der Winde. Den Rest besorgte die Dünung. Wir fühlten, wie sich der Anker aus dem Schlick löste. Kati brüllte und klapperte. Momodu stand verängstigt daneben und hielt sich krampfhaft am Ölkännchen fest.

Der Schoner kam in Fahrt. Das Dingi lag achtern im Schlepp. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Ich schaute rüber zur Mole, suchte nach Kris und Hans, aber da ragten nur die Masten der Fischerboote aus dem Dunst. Mori saß in eine Decke gehüllt neben mir auf der Lukenabdeckung. Wir wechselten fragende Blicke. Momo und Elise standen mit strahlenden Gesichtern im Ruderhaus. Sie waren fest entschlossen und stolz, dass alles so funktionierte, wie sie es wollten. Es gab kein Zurück. Wir verließen Libreville gegen einen leichten Wind aus Südsüdwest und fuhren unter Maschinenkraft in den Sonnenuntergang.
Libreville Teil 10
Donnerstag, 24. Mai 1979. Kurz nach Sonnenaufgang flaute der Wind langsam ab und schlief dann gänzlich ein. Auf meiner Koje liegend rekonstruierte ich die Strecke, die wir bislang zurückgelegt hatten. Irgendwann im Laufe des Tages würden wir den Äquator passieren. Vielleicht lagen wir bereits auf der Linie, oder kurz davor.

Für einen Seemann ist die erste Äquatorüberquerung eine wichtige Sache. Ich war froh, diese Erfahrung auf der Golden Harvest machen zu dürfen. Auf den großen Schiffen veranstalten die Seeleuten bei der Äquatortaufe die schrecklichsten Dinge: Speckschnurschlucken, Neptun die Füße küssen und im »Judenloch« baden, da, wo das Altöl gesammelt wurde. All solche Sachen. Ich hatte Angst davor, auf einem christlichen Schiff den Äquator zu überqueren.

Der Ausdruck »christliche Seefahrt« stammte aus dem 17. Jahrhundert, als von der Obrigkeit Gesetze erlassen wurden, mit denen Seeleute unter Androhung von Peitsche und Kerker gezwungen werden sollten, zweimal pro Tag gemeinsam Jesus Christus anzubeten. Wer dabei lachte, oder nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache war, erhielt eine Anzahl Peitschenhiebe, wobei jeder einzelne Schlag bezahlt werden musste. Unter deutschen Seeleuten hieß der Schmerzensmann deshalb einfach nur »Jupp an der Latt’«.

Der Seemannssonntag war der Donnerstag, der Tag des Donnergottes Donar oder Thor, des Jupiters der alten Römer, der in Palästina Ba’al genannt wurde. Am Donnerstag gab es auf den großen Frachtern zum Frühstück Eier, und am Nachmittag frisch gebackenen Kuchen. Es freute mich, dass ich den Äquator zum ersten Mal an einem Donnerstag überqueren sollte, und dass keine christliche Zeremonie stattfinden würde. Im Moment waren bei Momo und Elise abergläubische Rituale genauso wenig gefragt, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Es ging ihnen darum, am Ruder zu bleiben.

Gegen elf Uhr weckte mich das Getrampel der Meuterer. Beim Maniokessen in der Kombüse hörte ich ihre aufgeregten Stimmen. Die Golden Harvest lag in einer flachen Dünung, ohne nennenswert voranzukommen. Vielleicht eine halbe Meile pro Stunde. Die Zwei hatten verschiedene Bücherkisten aus der master’s cabin an Deck geschleppt. Momo stand achtern am Backbord-Schanzkleid neben dem Ruderhaus, mit mehreren Bibeln unterm Arm. Er blätterte hektisch in einem der Bücher, als wollte er Elise eine bestimmte Stelle zeigen, riss dann ein paar Seiten heraus, warf sie wütend über Bord und spuckte fluchend hinterher. Ich fragte was los ist:
»What’s wrong? What the hell are you doing?«

Momo war wie in Trance. Er drehte sich zu mir um und schüttelte die Heilige Schrift. Er würde Bücher hassen:
»I hate books! - Especially this!«

Es kam von Herzen. Er warf das Buch im hohen Bogen über Bord und brüllte:
»With compliments to Sister Magda!«

Gleich darauf wurde das nächste Exemplar ergriffen, verflucht und nach Außenbord beschleunigt:
»Return to sender!«
Die Bibeln sollten dahin verschwinden, wo sie hergekommen waren. Zum Teufel! Zur Hölle!
»Go to hell!«
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